Der Todestag 23.10.2004

Für Samstag den 23.10.2004 hatten wir uns viel vorgenommen. Ich bin selten bei meinen Eltern und sie freuen sich, wenn ich ihnen helfen kann. Nach dem Frühstück fuhr ich mit meiner Mutter einkaufen. Sie haben kein Auto und sind froh, wenn schwere Sachen mal durch die „Kinder“ eingekauft werden können. Zurückgekommen wollte ich das Aquarium meines Vaters sauber machen. Wir suchten Schläuche zusammen, räumten Blumentöpfe weg, da klingelte das Telefon. Ich ging ran.

Es war ein Notarzt, der mir mitteilte, dass er von Paul zu meinem Mann gerufen wurde, aber ihm nicht mehr helfen konnte. Der Notarzt fragte nach Vorerkrankungen, ich fragte, ob er schon einen Totenschein ausgestellt hat. Ich sagte, dass ich sofort nach Hause komme. Ich benachrichtigte seine Mutter. Es lief alles ab, wie im Film. Es war so unwirklich, unfassbar.

Ich packte meine Sachen und fuhr innerhalb von 10 Minuten los. Meine Eltern standen Kopf. Sie wollten mich nicht allein fahren lassen. Ich sagte, ich bin ganz gefasst, ich fahre und ihr bleibt hier. Sie sind beide herzkrank, waren von der Rundreise erschöpft und hätten das nicht verkraftet. Ich fuhr 250 km wie versteinert. 1000 Gedanken gingen mir durch den Kopf.

 

Zu Hause angekommen betrat ich das Haus, meine Schwiegermutter kam mir aufgelöst entgegen. In der Küche saß ein fremder Mann in schwarz (Seelsorger, hatte der Notarzt für Paul kommen lassen), Oma, Schwiegervater und Paul. Alle aufgelöst. Ich war immer noch ruhig und versteinert. Ich fragte, wo Lutz ist. Meine größte Sorge während der Fahrt war, dass er schon weggeschafft sein könnte und ich ihn nicht mehr sehen kann. Ich ließ alle stehen und ging zu meinem Mann.

 

 

Lutz lag im Wohnzimmer auf dem Teppich und war mit einem Vliestuch abgedeckt. Ich deckte sein Gesicht auf. Er war blau angelaufen, hatte eine Platzwunde auf der Stirn, sah aber ansonsten aus, als schliefe er. Ich streichelte ihm über das Haar, ich schmiegte mich an sein Gesicht, ich legte mich an seine Schulter. Ich war ganz ruhig. Ich war froh, nach der langen Fahrt endlich bei ihm zu sein. Ich war nicht bei ihm, als er starb. Er brauchte mich gerade jetzt. Ich war mir sicher, er spürte mich noch. Ich verbrachte ca. 3 Stunden neben meinem toten Mann. Nach und nach kamen meine zwei Brüder mit ihren Frauen und meine großen Kinder. Ich ging immer nur kurz aus dem Wohnzimmer um sie zu begrüßen. Alle weinten. Ich war immer noch ganz ruhig. Ich konnte nicht weinen. Noch nicht.

Ich fotografierte meinen Mann, als ich allein im Zimmer war. Ich hatte einfach den inneren Zwang die letzten Augenblicke festzuhalten. Jetzt bin ich sehr froh, dass ich die Bilder habe. Ich habe ihm seinen Ehering und seinen Ohrring abgemacht und eine Strähne von seinen Haaren abgeschnitten. Als Lutz ca. 8 Stunden tot war, begann die Totenstarre nachzulassen. Er blutete aus der Nase. Ich wusch das Blut ab und deckte den Teppich ab, damit keine Flecken werden. Ich musste einsehen, dass ich ihn nicht behalten konnte. Schweren Herzens rief ich das Bestattungsunternehmen an. Ich hätte ihn lieber noch eine Nacht dabehalten.

Ich hatte mir in schlaflosen Nächten oft schon Sorgen um meinen Mann gemacht. Wir hatten trotz der schweren Krankheit alle Prognosen verdrängt. Ihm ging es ja gut bis zuletzt. Aber ich habe auch darüber nachgedacht, was wird, wenn er stirbt. Gesprochen haben wir nie darüber. Wir wollten nicht, dass er stirbt. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich habe in schlaflosen Nächten schon über die Abläufe einer Bestattung nachgedacht. Ich hatte das alles bei seinem Opa erlebt. Damals war ich entsetzt über das Leichenhemd. Ich war für mich zu der Überzeugung gelangt, dass Lutz mal nicht so ein Hemd ankriegt. Das hätte nicht zu ihm gepasst. Ich wollte ihn im Anzug beerdigen lassen.

Ich holte die Sachen. Sein einziger Anzug war sein Hochzeitsanzug. Er trug ihn nur zu Hochzeiten, Beerdigungen und Jugendweihen. Er sollte ihn auch zu seiner eigenen Beerdigung tragen.

Die jungen Männer vom Bestattungsinstitut machten ihn zurecht, legten ihn in den Sarg und gaben ihm einen Blumenstrauß in die Hand. Wir nahmen alle eine Stunde am Sarg Abschied. Ich küsste ihn auf die Stirn und sagte „Schlaf schön mein Liebling“.

Hiersollte ein Bild von Lutz im Sarg stehen, aber nach Rücksprache mit einigen Trauerbegleitern habe ich darauf verzichtet.
 

Mein Bruder und mein ältester Sohn trugen den Sarg mit raus. Paul konnte nicht. Wir standen alle vor dem Haus, als der Leichenwagen ganz langsam die Straße rauf fuhr, oben wendete und langsam am Haus vorbei und wegfuhr. Diesen Weg sind wir sonst immer zusammen gegangen. Unser neues Wohngebiet hatte seinen ersten Toten.

Nach einem kurzen wortkargen Abendbrot (alle hatten seit früh nichts gegessen) fuhren alle Heim. Ich konnte diese Nacht nicht schlafen, lag wach im Bett. Geweint habe ich nachts dann auch, konnte dabei aber noch nicht aus mir herausgehen.

test123